Hoffen wir, es kommt es zu keiner weiteren Dezentralisierung von Bitcoin

Hoffen wir, es kommt es zu keiner weiteren Dezentralisierung von Bitcoin

Eine weitverbreitete Behauptung unter Bitcoin-Enthusiasten ist, dass es sich dabei um eine „dezentralisierte“ Zahlungsmethode handelt. Hier ein paar erwähnenswerte Quellen, die genau das behaupten:

Investopedia: „Bitcoin verspricht niedrigere Transaktionskosten als herkömmliche Online-Zahlungsmechanismen und wird, im Gegensatz zu von Regierungen ausgegebenen Währungen, von einer dezentralisierten Autorität verwaltet.“ (Übersetzung aus dem Englischen)

Business Insider: „Da Bitcoin dezentralisiert ist, unterliegt er keinen direkten Marktkräften, wie beispielsweise Zinsen oder Währungsentwertung.“ (Übersetzung aus dem Englischen)

St. Louis Federal Reserve: „Bitcoin ist ein dezentralisiertes Dokumentationssystem, dass Transaktionsdaten in der Blockchain aktualisiert.“ (Übersetzung aus dem Englischen)

Dazu kommen hunderte weitere Profi- als auch Amateur-Webseiten, die behaupten, dass Bitcoin ein dezentralisiertes System sei.

Aber ein neues Arbeitspapier der Ökonomen William J. Luther und Sean Stein Smith lässt Zweifel an dieser Charakterisierung von Bitcoin aufkommen. Luther und Smith bieten eine neue Taxonomie der verschiedenen Methoden der Zahlungsabwicklung: zentralisiert, dezentralisiert, und verteilt. Auch wenn sich diese vielleicht nur oberflächlich zu unterscheiden scheinen, so können die Auswirkungen doch signifikant sein.

Bevor wir damit beginnen, die verschiedenen Systeme zu definieren und zu verstehen, sollten wir uns zunächst einige Grundkonzepte anschauen.

Lassen Sie uns zunächst ein Tauschmittel als ein Gut definieren, welches erworben wird, um es gegen ein anderes Gut zu tauschen. Dann lassen Sie uns Geld als allgemein akzeptiertes Tauschmittel definieren. Schlieβlich müssen wir zwischen der Herstellung von Geld und der Verifikation eines Tauschs unterscheiden: die Herstellung von Geld erzeugt neue Geldeinheiten and führt sie dem System zu; die Verifikation eines Tauschs (bzw. einer Bezahlung oder Weiterverarbeitung) dagegen legt fest, ob genügend Gelder vorhanden sind, um eine Transaktion zu erfüllen. Wir können noch weiter gehen und Vertrauen als den Glauben an die Verifikation einer Transaktion bevor diese tatsächlich stattfindet definieren.

Nachdem die Präliminarien nun aus dem Weg geschafft wurden, können wir fortfahren und uns den drei verschiedenen Zahlungsmethoden widmen.

Bei einem zentralisierten Zahlungssystem gehen alle Transaktionen zur Verifikation durch eine dritte Partei. In der Praxis kann es sich bei dieser „dritten Partei“ jedoch um mehrere, verschiedene Parteien handeln – eine Netzwerkreihe von Drittparteien, in der eine nach der anderen die Arbeit des Vorgängers verifiziert. Das Hauptmerkmal dabei ist, dass beide Transaktionspartner, einfach gesagt, Pech haben, wenn nur eine Drittpartei nicht in der Lage oder willens ist, die Zahlung zu verifizieren.

In einem zentralisierten System herrscht daher ein Verifikationsmonopol. Niemand auβer der zentralisierten Autorität darf Geld herstellen oder Transaktionen verifizieren. Daher müssen alle anderen Nutzer dem Urteilsvermögen der zentralen Autorität vertrauen.

In einem dezentralisierten System dagegen gibt es viele unabhängige Verifikationsparteien. Ein Extrembeispiel: Ein System, in dem es für keine Transaktion einen Mittelsmann gibt (z. B. in einem Tauschsystem), ist ein dezentralisiertes System. Aber Dezentralisierung existiert nur auf einem Spektrum: Eine Situation, in der dutzende, unabhängigen Firmen um das Privileg der Transaktionsverifizierung konkurrieren, ist ebenfalls ein dezentralisiertes System.

Dies war im Zeitalter der privaten Münzfertigung der Fall. Zur Zeit des Warengeldes konnte jede Privatperson mit Zugang zu einer Prägeanstalt ihr eigenes Geld schöpfen. Die Geldhersteller konkurrierten hinsichtlich der Ästhetik und dem Wert-Gewicht-Verhältnis ihrer Münzen. In seinem Buch Good Money dokumentierte der Ökonom George Selgin das vielleicht goldene Zeitalter der privaten Münzprägung: England im 18. Jahrhundert:

Die Kommissionierung und Ausgabe gewerblicher Münzen, die einigen wenigen Industrie- und Minenunternehmen vorbehalten war, wurde von vielen Kleinunternehmen aufgenommen – Lebensmittelhändlern, Tuchhändlern, Silberschmieden, Mälzern, und so ziemlich jedermann, dessen Geschäfte einen Bedarf an kleinen Münzen generierte. Nun ja, nicht jedermann: Sogar bei kleineren Münzherstellern handelte es sich fast immer um lokal angesehene Personen, deren Münzauflagen im Vergleich zu ihrem Kapital und ihrer Kreditgewalt meist bescheiden waren.

Selgin (2011, S. 123; Übersetzung aus dem Englischen)

Könige und andere Nobelherren hatten jahrhundertelang Monopole im Bereich der Geldherstellung ausgeübt. Was hat also zur Unterbrechung des zentralisierten Systems geführt? Laut Selgin stoppte die Royal Mint in England als Maβnahme zur Kostensenkung die Produktion von Kupfermünzen mit niedrigem Wert, obwohl für sie eine groβe Nachfrage bestand. Praktischerweise gab es viele Kupferminen, die bereit waren, ihr Rohmetall an Privatpersonen zu verkaufen, die anschlieβend Münzen daraus prägten. Da Metalle ein allgemein akzeptiertes Tauschmittel waren (anderweitig auch als Geld bekannt), konnte jeder mit Zugang zu Metallen und dem Talent, daraus etwas Attraktives für den Konsumenten zu fertigen, sein eigenes Geld herstellen. Und laut Selgin (2011) waren sie in der Tat attraktiv:

Was die meisten Münzen des 18. Jahrhunderts zudem gemeinsam hatten…war ihre auβergewöhnliche Optik. Laut Francis Klingender…zeigten die Münzen eine einzigartige „Kombination aus intellektueller Kraft, sozialem Bewusstsein und fantasievoller Gestaltung“ (Klingender [1943], 46) [Quellenangabe korrigiert].

Selgin (2011, S. 133; Übersetzung aus dem Englischen)

Nach diesem System werden die Funktionen der Geldherstellung und der Transaktionsverifizierung getrennt. Die Prägeanstalt kauft das Rohmaterial und stellt das Geld her. Anschlieβend findet ein direkter Tausch gegen das Geld zwischen einer Person und dem Geldschöpfer statt, ohne dass eine dritte Partei eingreift. Die Person, die nun im Besitz des Geldes ist, kann es für eine neue Transaktion verwenden. Die Transaktionsparteien verifizieren jede Transaktion selbst, während der Geldschöpfer sich auf die Prägung leicht zu verifizierender Münzen konzentriert. Wenn die Nutzer der Münzen ihr Vertrauen in eine Münze verlieren, dann werden sie ihn nicht mehr verwenden und er geht pleite.

Da jeder Schritt in diesem Prozess nur zwei Transaktionsparteien erfordert, handelt es sich bei allen um dezentralisierte Märkte.

Natürlich erkannten die Zentralgewalten letztlich, was passierte und übernahmen den Geldschöpfungssprozess. Die anfängliche Rechtfertigung war dabei die Wahrung der Sicherheit aller Parteien. Im Laufe der Zeit übernahm die Regulierungsstelle mehr Aufgaben. Dies wird als „Regulatory Creep“ („regulatorisches Schleichen“) bezeichnet. Der „Regulatory Creep“ bahnte im 20. Jahrhundert den Weg zum modernen Zentralbanksystem, welches von einem Mindestreserve-System gestützt wird. Während die Zentralbank und Regierung sogenanntes Basisgeld (Bargeld und Einlagen „aus dem Nichts“ in den Konten der zugelassenen Banken) herstellen, sind es in einem Mindestreserve-System die Privatbanken, die letztlich die meisten Tauschmittel in der Wirtschaft generieren. Jede Bank tut dies, indem sie die Einlagen ihrer Kontokorrentinhaber verleiht.

Da jede Bank über die Erweiterung des Geldangebots mittels Anleihen auf Sichteinlagen entscheiden kann, funktioniert das System als dezentralisiertes Netzwerk von Geldschöpfern. Dennoch ist die Verifikation der Transaktionen zentralisiert. Daher ist das derzeitige Geldsystem eine Mischung aus zentralisiertem und dezentralisiertem System.

Das heiβt, bis der Bitcoin kam. Bitcoin ist weder ein zentralisiertes noch ein dezentralisiertes System. Stattdessen handelt es sich um ein verteiltes System.

In einem verteilten Geldsystem ist die Rolle der Transaktionsverifizierung über alle im Netzwerk verteilt. Dies unterscheidet es von einem dezentralisierten System, in dem die Befugnis, Geld zu schöpfen und zu verifizieren, unter vielen Leuten aufgeteilt ist. In einem verteilten System gibt es zwei Wege der Verifizierung: 1) Das gesamte Netzwerk teilt sich ein Hauptbuch, in dem jede, jemals erfolgte Transaktion dokumentiert wird; 2) das Netzwerk hat ein gemeinsames Protokoll oder Verfahren zur Verifikation von im Hauptbuch vorgenommenen Aktualisierungen über eine Art Konsensregel. 

Die Prinzipien des verteilten Geldsystems stammen aus der Welt des verteilten Rechnens. Die wesentliche Innovation Bitcoins war, als erster zu erkennen, dass ein über das gesamte Netzwerk verteiltes Vertrauen eine attraktive Transaktionsmetode darstellt. In Wirklichkeit ist Bitcoin jedoch ein vertrauensloses Zahlungsnetzwerk, da Käufer und Verkäufer sich gegenseitig oder einer Drittpartei nicht mehr vertrauen müssen. Stattdessen ist nur das Vertrauen in die exakte Durchführung des automatischen Protokolls erforderlich.

Die Beseitigung des zwischenmenschlichen Vertrauens ist ein riesiger Erfolg. Handel macht uns grundsätzlich reicher. Aber um handeln zu können, müssen wir der Person, mit der wir handeln, vertrauen. Historisch betrachtet hat Handel vor allem innerhalb von Stämmen, zwischen Familienmitgliedern und anderen eng verbundenen Individuen stattgefunden, wo das Vertrauen groβ war. Vertrauen war der einzige Tauschweg.

Nachdem überregionaler Handel zwischen den verschiedenen Stämmen entdeckt worden und der Tausch mit Fremden zu einem häufigen Ereignis geworden war, wurde die Notwendigkeit von Geld offensichtlich: Es ist schwierig zu wissen, was andere wollen, aber jeder will Geld. Der direkte Tausch bahnte den Weg für den indirekten Tausch, obgleich dezentralisiert. Obwohl Geld oberflächlich betrachtet unwirtschaftlich erscheint, so hat es doch einen erheblich reibungsloseren Markt ermöglicht. Ein dezentralisierter Markt benötigt nicht das volle Vertrauen der Gesellschaft, sondern nur genug Vertrauen darin, nicht ausgenutzt zu werden.

Die frühen Märkte waren dezentralisiert. Käufer und Verkäufer mussten sich bei einem Tausch nur gegenseitig vertrauen. Mit der Zeit, als die Stämme sesshaft wurden und Städte und Königreiche gründeten, wurde jedoch die Zentralisierung des Handels in Form von Fiat-Geld, staatlichen Münzstätten usw. die Norm. Das Vertrauen in die Gegenpartei wurde durch das Vertrauen in die zentralisierte Autorität ersetzt. Allerdings tendieren zentralisierte Autoritäten dazu, Handel nach Lust und Laune im Namen der Sicherheit, des Nationalismus, oder anderer berühmt-berüchtigter Ziele zu beschränken.

Bitcoin bietet einen Weg nach vorn. Weder ist es weiterhin nötig, sich auf eine wechselhafte zentrale Autorität bei der Verifizierung von Transaktionen und der Geldschöpfung zu verlassen, noch benötigt man ein groβes Maβ an Vertrauen. Durch die Vergröβerung des Marktumfangs können viel mehr Tausche stattfinden. Dies wiederum schafft Innovationsmöglichkeiten, Kostenreduktionen und andere Vorteile, die entstehen, wenn sich Menschen untereinander verbinden.

Luther und Smith (2020, S. 14-25) weisen aber auch darauf hin, dass mehr hinter Bitcoin steckt als sein verteiltes Zahlungsnetzwerk. Zum einen betrifft es die Kontrolle über das Protokoll selbst. Zu allen Änderungen im Protokoll muss ein gemeinsamer Konsens zwischen Entwicklern und Miners herrschen. Wir können den Entscheidungsfindungsprozess trotz des Fakts, dass einige Mining-Pools einflussreicher sind als andere, als weitestgehend dezentralisiert beschreiben. Zum anderen gibt es aber auch noch das Problem der Tausche und der E-Wallets. Da sie als Drittparteien Transaktionen verifizieren, handelt es sich bei ihnen um zentralisierte Kräfte im Bitcoin-Bereich.

Die originale Bitcoin-Studie erwähnt „Dezentralisierung“ nicht ein Mal. Stattdessen wird das System „peer-to-peer distributed time-stamp server“ („verteilter Zeitstempelserver auf Peer-to-Peer-Basis“) genannt. Warum wird ein verteiltes System fälschlicherweise als ein dezentralisiertes bezeichnet? Vielleicht weil viele die Intuition haben, dass das derzeitige System hochzentralisiert ist; und da Bitcoin nicht zentralisiert ist, muss es das Gegenteil sein: dezentralisiert. Allerdings gibt es noch einen dritten Weg der Organisation: Verteilung.

Ein verteiltes System ist nicht das Gleiche wie ein dezentralisiertes System. Dezentralisierte Systeme erfordern ein groβes Vertrauen zwischen Käufer und Verkäufer; verteilte Systeme stattdessen setzen voraus, dass sich alle Peers im Netzwerk ständig miteinander austauschen und kommunizieren. Als solches bieten verteilte Systeme weniger Privatsphäre als ein dezentralisiertes System, in dem Tausche ausschlieβlich zwischen Käufer und Verkäufer stattfinden. Weiterhin ist es möglich, dass sich die Verteilung der Verantwortung auf eine für die Speicherung jeder Transaktion – die zwischen allen Teilnehmern im System stattfindet – groβe Zahl von Akteuren als teurer (im Sinne von Speicher-, Energie- und Zeitkosten pro Transaktionszustimmung) erweist als das zentralisierte System, in dem nur eine Einheit verantwortlich ist.

Auf der anderen Seite können dezentralisierte Systeme umständlich und teuer sein, und das Maβ an notwendigem Vertrauen kann ebenfalls ein Handelshindernis darstellen. Ein Schritt in Richtung Dezentralisierung würde bedeuten, dass mehr Vertrauen notwendig ist, um an einem Tausch teilzunehmen – zusätzlich zum „Regulatory Creep“. Durch die Verringerung des für die Verifizierung einer Transaktion notwendigen Vertrauenslevels besitzt Bitcoin das Potenzial, Handel zwischen Fremden, die sich andernfalls gegenseitig nicht vertrauen würden, zu eröffnen.

Quellen

Luther, William and Sean Stein Smith (2020) “Is Bitcoin a Decentralized Payment Mechanism?” Social Science Research Network.

Klingender, Francis Donald (1943) “Eighteenth Century Pence and Ha’Pence.” Architectural Review 93: 41-46.

Selgin, George. (2011) Good Money. Independent Institute.